Gesellschaft und Utopie

Das Buch „Kohärenz“ von Ralph Edenhofer

Heile Welt

Herr Edenhofer hat ein Buch geschrieben. Das hat er schon mal gemacht. Aber ich habe bisher von ihm nur dieses eine gelesen. Ich habe es bis zur Seite 141 gelesen, bin dann auf die Seite 258 gesprungen und habe dort weitergelesen. Ich konnte mir bei Seite 140 nicht vorstellen, dass da noch irgendwas kommen könnte, was mich überraschen würde. Ich kann nicht sagen, ob das von Seite 141 bis 258 der Fall gewesen wäre, aber für die Seiten ab 258 kann ich sagen, dass es eigentlich keine Überraschungen mehr gegeben hat.

Warum ich trotzdem bis zur Seite 377 weitergelesen habe? Nun, Spannung hat das Buch ja. Und gefällig geschrieben ist es auch. Es macht also Spaß, es zu lesen und das reicht ja in den allermeisten Fällen aus, ein Buch nicht aus der Hand zu legen.

Aber für mich ist dieses Buch auch bemerkenswert. Für mich bricht es mit meinem bisher Erlebten in der SF-Szene der (west)deutschen Buchwelt – die ich eigentlich nicht kenne, da mir lediglich „Perry Roden“ und Stephen King als typisch für diese Gegend einfällt. Orwell und Wells zähle ich nicht dazu, denn das sind Werke die unbestritten einer anderen Welt angehören.

Zurück zum Buch. Ein Bild von einer heilen Welt in der fernen Zukunft. Der Mensch hat keine materiellen Sorgen mehr, das Leben des Einzelnen kann bis in die Unendlichkeit ausgedehnt werden, die Menschheit wächst zahlenmäßig ins Unendliche. Was für eine schöne Welt, möchte man meinen. Aber diese Welt hat auch gravierende Fehler und sie werden deutlich durch den Autor hervorgehoben. Darauf baut er seinen Konflikt auf.

Niemand stirbt mehr. Jedenfalls muss niemand mehr wegen eines verbrauchten Körpers sterben, es wird ihm ganz einfach ein neuer Körper zur Verfügung gestellt. Der Geist wird in einer digitalen Konserve aufgehoben und kann wiederverwendet werden. Wie schön. Ein Menschheitstraum ist erfüllt, das ewige Leben.  

Der Geist allerdings und wir kennen das aus unserem digitalen Leben, verschleißt. Unsere Konserven der digitalen Welt, etwa Filmkopien auf DVD, verschleißen mit der Zeit. Die Filme verlieren Pixel. Oder der Computer, den wir lange benutzten, stürzt dann immer öfter ab. Irgendwann ist die Festplatte so mit zerstückelten Programmen belegt, dass eine Neuinstallation notwendig wird. Natürlich verlieren wir dabei wichtige Daten. Oder es gibt einen einfachen Stromausfall….

Wenn der Geist des Menschen verschlissen ist, wir nennen es in unserer Welt wohl „Demenz“, versinken sie in einen zunehmenden Zustand der Entrückung von der Welt und sterben endlich, weil sie keinen neuen Körper mehr annehmen oder bekommen. Das ist die Lösung, führt aber zu steigenden Einwohnerzahlen, weil es eben mit den „Defekten“ nicht so schnell geht, wie mit dem Kindermachen. Dieses ewige Leben in der Zukunft ist aber nur eine nebenbei-technische Konstruktion, die dabei hilft den Konflikt der Protagonisten im Buch aufrecht zu erhalten.

Beim Lesen treten Fragen auf. Es gibt keinen Missbrauch der Konserve, es gibt keine Unstimmigkeiten, keinen ernsthaften Streit. Ist die Menschheit so zufrieden, dass sie gar nicht mehr zu Meinungsverschiedenheiten, zu Eifersucht, Missgunst, Machtmissbrauch, kommt? Sind wirklich alle Probleme mit der Behebung materieller Engpässe beseitigt?

Eine zweite, die entscheidende, Konstruktion für die Geschichte ist die Schaffung der Kohärenz. Es ist erstrebenswert, keine Kriege mehr zu erleben. Besonders wenn in naher oder ferner Zukunft immer wieder die Gefahr eines Atomkrieges mit dem Ergebnis der Auslöschung der gesamten Menschheit über unseren Häuptern schwebt, ist es ein nicht abzuweisender und verständlicher Wunsch, Kriege an sich unmöglich zu machen.

Angehaltene Welt

Und doch ist da etwas. Da entsteht dieser Konflikt. Es darf in dieser Welt der Menschen keine technologischen Entwicklungen geben. Der Autor hat die unterschiedliche Entwicklung, besonders im technologischen Bereich, der Menschen auf den verschiedenen Welten/ Erden/ Siedlungsräumen als die Ursache von Kriegen ausgemacht. Und aus diesem Grunde wird die technische und gesellschaftliche Entwickelung unterbunden und wenn jemand dagegen verstößt dann droht die physische Vernichtung.

Der Held der Geschichte hat die Aufgabe, zu überwachen, dass niemand in seinem Sonnensystem vom Grundprinzip der Kohärenz abweicht, das eherne Gesetz übertritt. Der große Zusammenhalt aller menschlich besiedelten Sonnensysteme soll über gleichschnelle Entwicklung erreicht werden. Wenn eine Menschheit in einem Sonnensystem das Prinzip verletzt und etwa technologischen Fortschritt erforscht und zu erlangen versucht, so sind die „Revisoren“, wie eben auch der Protagonist, zuständig für die Vernichtung der gesamten Menschheit des Planetensystems. Millionen, vielleicht Milliarden Menschen sterben.

Ist das erstrebenswert? Was sind da unsere Kriege in der Jetztzeit, wenn nachher Milliarden umgebracht werden, wegen der Einhaltung des Prinzips? Die Begründung der Regierenden dafür ist, dass es der Untergang der gesamten Menschheit ist, wenn das Prinzip nicht eingehalten wird.

Der Autor hat da ein Problem. Es lässt sich mit seiner Sicht auf die Dinge auch nicht lösen. Ist es heute notwendig, alle Atomforscher umzubringen und das Wissen über die Atomenergie zu vernichten, damit die Menschheit nicht in einen Atomkrieg kommt? Dazu ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Es herrscht weitgehend Einigkeit, dass es nicht sinnvoll ist, alle Atomphysiker umzubringen und dass es auch nicht möglich ist, den Fortschritt der Technologie mit dieser Vorgehensweise aufzuhalten.

Der Autor ist in eine ferne Zukunft gereist, in der alle Träume und Ideen der Kommunisten erfüllt sind. „Jeder nach seinen Bedürfnissen!“ Die Voraussetzung dafür ist es, ausreichende Menge von allem bereitzustellen. Es sollen alle aus dem Überfluss schöpfen können, der nicht unter ihren Bedürfnissen und Wünschen zusammenbricht.

Gleichzeitig ist hier der große Vorwurf gegen eine Gesellschaft im Überfluss verarbeitet. Das „Schlaraffenland“ in dem einem die gebratenen Gänse in den Mund fliegen und Müßiggang die bevorzugte Beschäftigung ist, wird hier als allgegenwärtiger Zustand genommen. Das große Ziel ist erreicht, Tod, Krankheit, Mangel, Unfreiheit in jeder Form ist besiegt, Gleichheit herrscht überall.

Was für ein Alptraum! Keine Entwicklung mehr, nur noch Müßiggang, der Innovationsgeist der Menschen, der Menschheit, ist gebrochen.

Alternativen?

Das ist ein Vorwurf der auch gegen den Traum vom Kommunismus gerichtet ist, so wie ein „westlich denkender“ Mensch es versteht. Wenn alle gleich viel haben und jeder hat genug, wie soll es dann noch die Menschen zur Entwicklung inspirieren?  Und Stillstand ist gleich Untergang. Die Gleichmacherei unterdrückt den Innovationsgeist und die Freiheit des Einzelnen in Denken und Handeln. Es ist nicht nur der volle Bauch, es ist auch die Unterdrückung von Fortschritt und Denken, die der Kommunismus aus dieser Sicht hervorbringt und angeblich zu seiner Stabilität braucht.

Materiell ist diese Welt möglich. Sie liegt gar nicht so sehr in der Ferne. Zwar ist es technologisch noch weit hin, bis wir lichtschnell oder nahezu lichtschnell in andere Galaxien reisen können, aber den allgemeinen Wohlstand auf der Erde könnten wir in wenigen Jahrzehnten ausrufen. Wir produzieren genug Güter, um die ganze Menschheit mit genügend Nahrungsmitteln, lebenswerten Unterkünften, Gesundheitsdiensten, Altersversorgung und auch mit der gegenwärtig modernen und erstrebenswerten Technik versorgen zu können.

Noch können wir das alles nicht im Überfluss bieten, aber alles ausreichend für alle.  und gleichmäßig verteilt, auch gerecht und befriedigend.

Wir Menschen als Menschheit haben jede Menge Potential. Wir müssen nur vernünftiger produzieren, manche Dinge nachhaltiger machen, gerecht verteilen, lokale Gegebenheiten nutzen und stärken. Das geht und wir haben die Technologie, bald einen Überfluss an materiellen Gütern, auch für alle, bereitzustellen.

Vernünftiger wäre allerdings nur das Benötigte herzustellen. Aber auch das ist möglich.

Selbst Gleichberechtigung, individuelle Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit lässt sich herstellen. Und das nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen den Völkern. An vielen Stellen braucht es nur eine andere Denkweise, das Weglassen von hassschürender Propaganda, die Unterbindung von Gier der Reichen, ausreichende Bildung, auch in Geschichte.

Das sind die Sichten eines einseitig gebildeten und von der herrschenden Auffassung des herrschenden Systems, nämlich dem Kapitalismus, beherrschten Gehirns.

An keiner Stelle, jedenfalls ist mir keine aufgefallen, geht der Autor auf die Prozesse der Herstellung der Güter ein. Es passiert alles automatisch, anscheinend braucht es keiner menschlichen Einflussnahme mehr, um alles zu richten und doch machen die Menschen ja was. Die Erstbesiedler erforschen den Planeten, sorgen für die Entwicklung einer Biosphäre, nachdem sie die Geosphäre geordnet wurde.

Aber wer macht es, wer treibt das an, wer bezahlt das? Wer trifft Entscheidungen was, wann, wo und wieviel produziert wird? Der Eigentümer all der Produktionsmittel sollte ermittelt werden. Derjenige trifft dann auch so schwerwiegende Entscheidungen über den Tod von Milliarden und den Tod der gesamten Menschheit.

Wenn an die Stelle der jetzigen Triebkräfte, dem Trieb nach persönlichem Reichtum und Macht und dem Zwang immer besser zu sein, als der andere Produzent, weil sonst der eigene Untergang ansteht, eine andere Triebkraft, nämlich das Streben nach Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen, wie auch der Menschheit insgesamt, tritt, dann ist der Entwicklung kein Hindernis entgegengesetzt.

Wenn an Stelle der jetzigen Kriegsgründe, nämlich der Profitgier der Rüstungs- und anderen Konzerne, dem geschürten Hass, der Gier nach Macht der Obersten, die Gleichheit, Achtung, Gerechtigkeit, das Gesetz, treten würde, wenn vor allem die Gier beseitigt wäre, dann bräuchte es keine Kriege. Technologieunterschiede bedeuten nicht automatisch Krieg. Es kann zum friedlichen Austausch von Technologie kommen, wenn alle Parteien das Beste für alle Parteien wollen. Krieg vernichtet, Technologie hebt.

Alles Feinde

Der Mensch ist des Menschen Feind? Der Mensch ist ein Tier? Der Stärkste setzt sich durch? Was für absurde Theorien. Was für hässliche Propaganda! Der Mensch ist Mensch und konnte sich als Menschheit auf diesem unseren Planeten behaupten und überleben, weil er eben in der Gemeinschaft zusammengehalten, sich gegenseitig geholfen, Technologien und Kultur weitergegeben hat. Der Mensch hat sich mit und gegen die Natur (und das Klima) behauptet. Und das konnte er nicht allein dank einzelner Akteure (Helden, Unternehmer), sondern nur in der Zusammenarbeit erreichen.

Wenn alle Menschen Feinde wären, dann wäre diese Spezies längst vom Erdenrund verschwunden.

Wenn alle Menschen Helden wären, wer würde die Säuglinge nähren, die Windeln wechseln, Kartoffeln anhäufeln, das Essen zubereiten, Holz hacken, Öl fördern?

Wenn alle Menschen erfolgreiche Unternehmer wären, könnte es keine Insolvenzen mehr geben, würde es keine noch besseren Staubsauger geben und schon gar keine Saugroboter.

Dem Marxismus wird der Vorwurf gemacht, er schlösse den „menschlichen Faktor“ aus seinen Überlegungen aus. Es wird behauptet, dass Gier, Neid, Missgunst usw. dem Menschen innewohne und dass immer einer besser als der andere wäre und einer immer mehr haben wolle als andere haben.

Es ist so, die Menschen sind nicht gleich. Nicht einmal Frösche sind einer wie der andere. Aber deswegen bringen sich doch Frösche auch nicht gegenseitig um. Sie teilen nicht, wenn Not da ist, das können nur Menschen, oder auch Löwenmütter mit ihren Kindern.

Aber wenn die schlechten Eigenschaften nicht propagiert werden und nicht geschürt und wenn die Gierkranken ein wenig mit Regeln in Zaum gehalten werden, dann funktioniert das menschliche Zusammenleben ganz ohne Hass und Todschlag.

Die Produktionsmittel gehören allen. Das heißt nicht, dass sie keinem gehören, sondern dass alle teilhaben daran und an den Ergebnissen, der Produktion. Die Entscheidungen werden lokal für die lokale Bevölkerung getroffen und global durch das Zusammenwirken aller. Die technischen Mittel für Gerechtigkeit, Kontrolle und Durchsetzung sind da und entwickeln sich.  Die ethischen Regeln müssen sich auch nach und nach entwickeln, das aber funktioniert nicht, wenn einzelne auf Grund ihrer ökonomischen Macht auch die Propaganda und die Gesetzgebung und deren Durchsetzung beherrschen.

Dass lässt der Autor aus. Vermutlich hat er von der Marxschen Theorie gehört, vom „Kapital“ und der gängigen Kritik, aber für sein Buch ist es nicht relevant. Ein gesellschaftlicher Entwurf in dieser Richtung, das wäre es wert mal durchzuspielen. Vielleicht ist dann diese Schrecklichkeit, Milliarden umbringen zu müssen und das um Stillstand durchzusetzen, zu vermeiden.

 

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